Was nicht verkauft werden kann
Ein Essay über das Geschäft mit der Sehnsucht
Hinweis:
Alle im folgenden Text verwendeten Begriffe, Titel und Formulierungen für Online-Programme, -Kurse oder -Masterclasses sind frei erfunden und dienen einer satirisch-analytischen Darstellung von Tendenzen im Bereich des digitalen Coachings und der Selbstverwirklichung. Es handelt sich nicht um eine Bewertung konkreter Personen oder Programme. Sollte es zufällig Angebote mit ähnlichen Namen geben, sind diese ausdrücklich nicht gemeint.
„In einer Zeit, in der alles verkauft wird, ist das, was nicht verkauft werden kann, heilig.“ Dieser Satz des Psychotherapeuten und Autors Francis Weller steht wie eine Kerze in einem dunklen Raum.
Wir leben in einer Zeit, in der fast alles einen Preis hat. Transformation, Bewusstsein, Selbstverwirklichung – alles scheint käuflich. In schön gestalteten Onlinekursen, auf Hochglanz-Websites, mit Rabattcodes und Early-Bird-Angeboten, die sich anfühlen wie der Schlussverkauf für die Seele.
Und mittendrin wir. Wir sind auf der Suche nach Stille, nach Bestätigung, danach, gesehen zu werden, nach Echtheit, nach Liebe. Nach einer Richtung, die uns nicht in die nächste Masterclass schubst, sondern uns vielleicht einfach mal zu uns selbst zurückführt – so, zur Abwechslung.
In den letzten Jahren haben wir eine regelrechte Industrie erlebt, die sich auf Achtsamkeit und Spiritualität spezialisiert hat. Sie verspricht Frieden, Fülle und Freiheit – in zwölf Modulen mit Videoanleitung, PayPal-Link und selbstverständlich Lifetime Access (aber nur, wenn du innerhalb der nächsten 48 Stunden buchst!).
Ich habe nichts gegen Online-Kurse und ich bin auch nicht dagegen, dass Menschen für gute Arbeit Geld verlangen. Im Gegenteil. Arbeit soll fair entlohnt werden. Aber was passiert, wenn Begriffe wie „heilig“, „Seelenweg“, „Higher Soul“ oder gar „Erleuchtung“ zu Produktnamen werden? Wenn spirituelle Sehnsucht mit Conversion-Rates kalkuliert wird?
Dann verschiebt sich etwas.
Es geht nicht um einzelne Personen oder Marken. Es geht um ein System, das wir alle – auch ungewollt – mittragen, solange wir es nicht hinterfragen. Ein System, das so tut, als wäre der nächste Onlinekurs die Rettung, obwohl wir längst zehn andere unvollendet auf der Festplatte haben. Wir kaufen, bevor wir fühlen. Wir konsumieren, bevor wir reflektieren. Und wir verwechseln Zugehörigkeit mit Wachstum.
Was dabei oft fehlt, ist nicht das Wissen, sondern die Verarbeitung, die Umsetzung und die Integration. Und vor allem die Wahrheit: unsere eigene, leise innere Stimme, die klüger ist als jedes Werbevideo, aber oft leiser. Ehrlicher.
Wie bereits gesagt, bin ich nicht gegen moderne Formate der Wissensvermittlung. Auch ein Onlinekurs kann tief bewegen. Aber nicht, wenn er als spirituelles Superfood mit künstlicher Verknappung, Rabattschlacht und pompösen Titeln wie „The Sacred Code” oder „Quantum Awakening Experience” verkauft wird. Nicht, wenn Menschen in emotionalen Krisen nicht auf sich selbst zurückgeworfen werden, sondern auf Zahlungspläne mit Zinssatz.
Und wir wundern uns. Wir wundern uns, wie viele gute, reflektierte und kluge Menschen sich immer wieder auf genau diese Angebote stürzen. Menschen mit Herz, mit Sehnsucht, mit echtem Interesse an Tiefe. Warum erkennen sie die Muster nicht? Warum spüren sie den Unterschied nicht zwischen einem inneren Ruf und einem inszenierten Call-to-Action?
Vielleicht, weil wir alle müde sind. Weil wir von der Vielzahl an Möglichkeiten überfordert sind. Und weil es schwer ist, einen klaren Blick zu bewahren in einer Welt, die uns täglich suggeriert, dass wir erst dann wirklich erwacht sind, wenn wir noch diesen einen Kurs gemacht haben auf dem Weg zum super-optimized Sacred Self.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass kaum jemand den Mut hat, das auszusprechen. Nicht jeder Weg ist für jeden geeignet. Nicht jeder ist bereit. Und nicht alles, was schön aussieht, ist wahr.
Es geht nicht darum, keine Angebote mehr zu machen. Es geht darum, wie wir sie formulieren. Ob wir Angst auslösen oder Vertrauen stärken. Ob wir mit künstlicher Verknappung Druck aufbauen oder mit Klarheit und Respekt für die Entscheidungen der anderen werben.
Achtsames Marketing bedeutet, einzuladen, ohne zu schubsen. Ich zeige mich, ohne mich aufzudrängen. Ich vertraue darauf, dass Resonanz nicht durch Taktik, sondern durch Haltung und Bedürfnis entsteht.
Manipulatives Marketing erzielt nur kurzfristige Effekte. Ethisches Marketing wirkt dagegen langfristig und nachhaltig, weil es den Menschen und nicht nur die Zielgruppe sieht.
Was viele vergessen: Nicht jedes Thema braucht einen Kurs. Manches braucht Zeit. Oder eine Therapeutin. Oder einfach eine ehrliche, sachliche Begleitung ohne Verkaufsversprechen.
Wir leben in einer Zeit, in der Traumata in 20-sekündigen Reels erklärt werden, ADHS zur Lifestyle-Diagnose wird und jeder Schmerz sofort „gelöst“ werden muss – am besten mit einem Rabattcode.
Doch echte Transformation ist nicht effizient. Sie ist zäh, leise und unbequem. Sie braucht Tiefe, nicht Tempo.
Und viele Menschen spüren das wirklich. Sie brauchen kein weiteres Abo, kein weiteres Workbook und keine neue Mitgliedschaft, sondern die Erlaubnis, sich mit den eigenen Themen auseinanderzusetzen. Und vielleicht endlich ernst genommen zu werden.
Ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit in der Szene der sogenannten „Bewusstseinsarbeit“. Es sollte weniger Hochglanzversprechen und mehr Demut geben. Weniger Transformation im Zeitraffer, mehr Innehalten.
Vor allem wünsche ich mir Räume, in denen wir nicht zu puren Konsument:innen von Spiritualität gemacht werden, sondern in denen wir uns selbst und das Leben wieder mit ehrlichem Blick betrachten dürfen.
Dazu gehört auch, zu den Wurzeln zurückzukehren. Zurück zu den Quellen. Zu den Stimmen, die keine Buzzwords benutzen, sondern tiefe Gedanken äußern.
Vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder an die Bücher zu erinnern, die nicht mit dem Ziel geschrieben wurden, uns zu verbessern, sondern um uns zu begleiten – manche davon schon seit Jahrhunderten. An Meditationen, die nicht Teil eines Funnels sind, sondern Ausdruck von Verständnis und Liebe.
Ich glaube, dass Achtsamkeit und Spiritualität eine Praxis ist, die nie ein Endlevel erreicht. Wir bleiben ewig eifrige Schüler:innen, die nicht alles perfekt machen, sondern auch mal auf die Nase fallen – samt Mala in der Hand.
Ich glaube, dass spirituelles Wachstum nicht zwingend sichtbar, laut oder erfolgreich sein muss. Vielleicht ist es sogar das Gegenteil: still, unspektakulär und zutiefst menschlich.
Wir brauchen keinen weiteren Seelenkurs mit goldener Schrift, der von 6.666 € auf 4.444 € reduziert wurde.
Wir brauchen Mut zur Langsamkeit. Mut, einen Schritt zurückzugehen, bevor wir vorwärtshetzen. Mut, uns selbst zuzumuten – ohne digitale Abkürzung.
Wir sollten jetzt einen feinen Filter entwickeln. Wir dürfen prüfen, wer da was (ver)spricht. In welchem Ton? Mit welchem Blick auf den Menschen?
Und wir dürfen Programme und bekannte Persönlichkeiten auch ablehnen – nicht aus Trotz, sondern aus Würde. Es ist egal, wie viele Follower:innen er oder sie auf Instagram hat, wie viele Nullen auf dem Bankkonto stehen oder wie viele Häuser auf Bali vorhanden sind.
Wir dürfen wieder Vertrauen in unser eigenes inneres Wissen zeigen. Nicht als esoterisches Konzept, sondern als gelebte Erfahrung.
Beginnen wir wieder mit dem Denken und hinterfragen wir, was wir wirklich brauchen – und was uns nur ablenkt. Lass uns Räume schaffen, in denen wir mehr teilen. Und lass uns in einer Zeit des digitalen Lärms den Mut haben, der Stille wieder zu vertrauen.
Denn das, was nicht verkauft werden kann, ist heilig. Und vielleicht beginnt dann unsere eigentliche Arbeit.