Abstrakte Kunst verstehen
„Das verstehe ich jetzt nicht.“ Kaum ein Satz begegnet mir so oft, wenn Menschen vor einem abstrakten Kunstwerk stehen. Und ich verstehe das – #punintended.
Denn abstrakte Kunst stellt eben nichts dar, was wir im Alltag erkennen. Keine Landschaft, kein Gesicht, keine Obstschale. Stattdessen sehen wir: Flächen, Linien, Farben, Strukturen, Kleckse. Leere. Manchmal auch ein Wort, eine Zahl oder eine Zeile als Impuls. Vielleicht auch ein Rätsel. Vielleicht auch alles zusammen.
In diesem Artikel möchte ich dir einen Zugang zur abstrakten Kunst eröffnen, der nicht auf Erklärungen oder Techniken, sondern auf Verbindung setzt. Ich zeige dir, warum es nicht immer ein „Verstehen” braucht, was Struktur mit Freiheit zu tun hat und warum der leere Raum genauso viel sagt wie die Farbe selbst.
Was ist eigentlich abstrakte Kunst?
Bei der abstrakten Kunst wird bewusst auf eine gegenständliche oder realistische Darstellung verzichtet. Anstelle von Motiven werden Form, Farbe, Textur und Rhythmus verwendet. Sie lässt das Abbild weg und eröffnet somit Raum für etwas anderes, Feines: Gefühle. Für Wahrnehmung und Interpretation.
Dabei ist abstrakt nicht gleich beliebig. Viele Werke folgen einer eigenen inneren Logik, einem Farbschema, einem Konzept oder einer Komposition, die genauso durchdacht sind wie in der gegenständlichen Malerei – nur ohne erkennbare Figuren oder Gegenstände.
Warum ist es für uns wichtig, Kunst zu verstehen?
Unsere Welt ist auf Verstehen gepolt. Unser Gehirn ist biologisch so programmiert. Es sucht ständig nach Mustern, Erklärungen und Orientierung – es kann gar nicht anders.
Ein Kunstwerk, das sich dem entzieht, verunsichert uns zunächst. Denn es fordert uns heraus, es neu zu erkennen, zu interpretieren und selbst eine Position dazu zu beziehen. Nicht: „Was soll das sein?” – sondern: „Was sehe ich? Was fühle ich? Was passiert mit mir?”
Abstrakte Kunst lädt uns also ein, hinzuhören, hinzusehen und hinzufühlen. Das ist oft ungewohnt, aber genau deswegen auch sehr befreiend.
Die erste Reaktion auf ein abstraktes Bild ist selten rational, oder? Sie ist körperlich. Ein „Oh!“ oder ein „Wow!“. Ein „Hmmm … oookkkaaayyy“. Ein Unbehagen. Ein tiefes Einatmen und manchmal vielleicht sogar Tränen. Oft können wir gar nicht benennen, was wir fühlen, wenn wir ein abstraktes Kunstwerk betrachten, aber etwas in uns regt sich und antwortet.
Gerade weil abstrakte Kunst nichts vorgibt, kann sie viel mehr spiegeln. Du bringst deine eigene Geschichte, deine Stimmung, deine Erwartungen und deine Glaubenssätze mit. Und genau diese Resonanz ist der eigentliche Dialog.
Struktur in der Abstraktion?
So paradox es klingen mag: Viele abstrakte Werke folgen klaren Strukturen. Linien führen das Auge. Farbfelder erzeugen Gewichtung. Schichten erzeugen Tiefe. Der vermeintliche „Zufall” ist oft das Ergebnis eines fein justierten Prozesses.
Ich selbst arbeite oft mit Konzepten, gerade bei Serien oder Zyklen wie meinem Winterprojekt. Auch wenn ich intuitiv beginne, gibt es ein Thema, einen inneren Rahmen. Eine wiederkehrende Farbpalette. Ein Spannungsfeld aus Leere und Dichte.
Das bedeutet: Struktur schließt Freiheit nicht aus. Im Gegenteil. Sie gibt Halt, damit das Unbekannte entstehen kann.
Die Rolle des negativen Raums in der abstrakten Kunst – und warum ich ihn liebe
Viele Künstler:innen müssen die gesamte Leinwand ausmalen, sie können nicht anders. Bei mir passiert das Gegenteil. Ich spüre, dass meine Kunst Raum braucht, Luft zum Atmen – besonders, wenn ich auf Leinwand male.
In meinen Leinwandarbeiten wirst du deshalb immer negativen Raum sehen, also Quadratzentimeter, die roh sind und keine Farbe tragen, dafür aber eine Geschichte erzählen. In der gegenständlichen Malerei gilt der leere Raum oft als Hintergrund. In der abstrakten Kunst ist er jedoch ein gleichwertiger Teil des Werks. Leere ist nicht Nichts. Sie ist Potenzial.
Ein unbemalter Bereich kann genauso aussagekräftig sein wie ein leuchtendes Farbfeld. Er zieht den Blick an, schafft Atempausen und lässt uns innehalten. In einer Welt voller Reize ist das fast revolutionär.
Ich liebe diese Zwischenräume. Sie sind kein Verzicht, sondern eine Einladung zum Innehalten, zum Nachspüren und zur Projektion. In der Leere passiert viel – nur eben nicht laut.
Wie du Zugang zur abstrakten Kunst findest
Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg, wenn du dich abstrakter Kunst nähern willst. Hier ein paar Impulse, die bei mir funktionieren:
Langsamkeit hilft. Wenn du dir für den Besuch einer Ausstellung oder eines Museums viel Zeit nimmst und dich extra langsam durch die Räume bewegst, kann das viel ausmachen.
Wenn du ein abstraktes Kunstwerk betrachtest, lade ich dich ein, der Frage „Was ist das?” zu widerstehen, die dir wahrscheinlich sofort in den Sinn kommt. Stelle dir stattdessen Fragen wie „Wie fühlt sich das an?”, „Was spüre ich gerade?” oder „An was erinnert es mich?”.
Verschiedene Blickwinkel und Distanzen können sehr aufschlussreich sein. Betrachte das Kunstwerk aus der unmittelbaren Nähe, sodass du Strukturen erkennst, dann aus der Distanz mit zwei bis drei Metern Abstand oder aus der anderen Ecke des Ausstellungsraums.
Der Körper spricht stets mit uns: Welches Kunstwerk zieht dich automatisch an? Welches lässt dich kalt?
Um deine Wahrnehmung zu schärfen, empfehle ich dir, die erklärenden Beschriftungen der einzelnen Kunstwerke sowie die Einführungstexte der Ausstellung nicht am Anfang, sondern am Ende deines Besuchs zu lesen. So betrachtest du die Werke unvoreingenommen. Genauso kannst du es mit den Titeln der Werke machen. Schau dir die Werke zuerst an und lies die Titel erst danach, damit du dich nicht beeinflussen lässt, was du „sehen” sollst.
Was dir abstrakte Kunst schenken kann
Für mich ist sie eine Form der inneren Landschaftsmalerei. Sie zeigt keine Orte, sondern Zustände. Nicht „so ist es”, sondern „so kann es sich anfühlen”.
Sie kann dich herausfordern und berühren. Manchmal kann sie auch verstören. Oft kann sie auch trösten oder einfach neugierig machen.
Du musst abstrakte Kunst nicht verstehen. Du darfst sie erleben.
Und manchmal verstehst du dabei ganz nebenbei auch dich selbst ein bisschen besser.